Hintergründe zum neuen Lockdown-Management

Hintergründe zum neuen Lockdown-Management

Hier erkläre ich einige Hintergrundüberlegungen zum Neuen Lockdown-Management. Lest ruhig den Artikel erst, dann wird das hier verdaulicher.

Welche Elemente des Lockdown-Managements sind unabkömmlich?

Für einen Erfolg sind ein paar Elemente des Plans unabkömmlich, andere sind flexibler. Es ist wichtig bei der Implementierung hier zu unterscheiden.

Wichtig ist, dass ein möglichst ein Wert als Regelgröße genommen wird. Auch wenn Vermeidung von Sterbefällen ein wichtiges Ziel ist, es macht keinen Sinn, hier drauf zu schielen, dann die Infektionen, die jetzt zum Tode führen, waren vor fünf Wochen. Zu langsam.

Der R-Wert oder die Wachstumsrate machen sehr viel Sinn, weil sich mit ihr eine gute Abwägung zwischen Strenge der Maßnahmen jetzt und Strenge der Maßnahmen später treffen lässt. Ausßerdem gibt es eine gute wissenschaftliche Rechtfertigung für den konkreten Zielkorridor.

Wichtig ist es auch einen breiten Korridor zu haben. Regeltechnisch ist der zwar nachteilig, weil der Zielwert der Wachstumsrate stark schwanken kann, gesellschaftlich hat das aber riesige Vorteile: Die Regeleingriffe werden selten. Da der Wechsel von einer Stufe auf die nächste Veränderungen in fast allen Lebensbereichen bringt, sollten diese Wechsel so wenig wie möglich gemacht werden. Ein Satz Regeln sollte Wochen am Stück gelten, es sein denn, es ist ganz konkreter Handlungsbedarf. Das erlaubt der breite Zielwertkorridor.

Da dieser Korridor so breit ist, können wir nicht sinnvollerweise mehrere nebeneinander haben. Wir können also nicht die gleiche Struktur benutzen, wie bei den Stufenplänen, die jeweils ihren eigenen Korridor haben (über 50 gilt das, über 100 gilt das, über 200 gilt das). Klassische Stufenpläne basierend auf Inzidenzen mit verschiedenen Inzidenzleveln verhalten sich wir P-Regler.

Hier wird ein I-Regler benutzt. Wir handeln, wenn wir vom Zielkorridor abweichen. Und wir handeln mehr, wenn wir länger aus dem Korridor abweichen. Das führt die Situation immer wieder in den Zielkorridor zurück (keine bleibende Regelabweichung).

Ferner erlaubt das eine Eskalationstreppe mit vielen Stufen, so dass fein abgestufte Eingriffe umgesetzt werden können.

Und wichtig ist: Es wird nicht dauernd am System verändert. Es sollten neue wissenschaftliche Erkenntnisse eingebracht werden. Gesellschaftliche Prioritäten sollten berücksichtigt werden, wenn sie sich verschieben. ABER: Es wird nicht mehr tagesaktuell eingegriffen. Das ist Absicht. Es geht darum, ein solches Management einmal einzuführen und dann aus den anstehenden Wahlkämpfen herauszuhalten. Einerseits, dass die Pandemiebekämpfung nicht unter den Wahlkämpfen leidet, aber auch andersherum, dass die Wahlkämpfe freier vom pandemischen Tagesgeschäft geführt werden können. Wir wählen jetzt für eine Legislaturperiode, die die Pandemie hoffentlich deutlich überdauert. Es ist gerade nicht alles nur Pandemie.

Und welche Elemente sind nicht so wichtig?

Interessanterweise ist die Maßnahmentreppe nicht so wichtig. Also die Inhalte, die Abwägung der Bereiche untereinander, das bestimmt nicht so sehr den Erfolg. Was vielleicht erschreckend sein mag, weil die aktuelle Debatte NUR auf die Maßnahmen abzielt.

Wichtig ist nur, dass die Maßnahmen alles enhalten von volle Freiheit bis zu sehr starken, kontaktvermeidenden Maßnahmen. Dann wird der Regelmechanismus die Stufe auswählen, die stark genug das Virus einschränkt aber nicht übertreibt.

Das heißt, dass wir die volle Freiheit haben, abzuwägen, Schulen länger offen zu lassen, als Nagelstudios. Oder den Betrieb der Industrie aufrechtzuerhalten. Oder den Tourismus zu priorisieren. Oder nach einem Jahr Maßnahmen im privaten eher im beruflichen zu versuchen die Pandemie einzudämmen.

Wir haben die volle politische Freiheit, als Gesellschaft Prioritäten zu setzen. Diese Prioritäten werden dann auch in der Maßnahmentreppe sehr transparent.

Wieso braucht es einen Regelmechanismus?

Wir verlangen gerade viel von den Politikern. Sie haben irgendeine Berufsausbildung, die nichts mit Viren zu tun hatte und müssen jetzt unter den Augen aller Maßnahmenpakete festlegen, die den Verlauf der Pandemie in den nächsten Wochen bestimmt. Unfair ist gar kein Ausdruck, das Spiel kann auch ohne lebensgefahr niemand wirklich gewinnen.

Das hat strukturelle Gründe: Die Eingriffe sind zu selten, um wirklich auf das Geschehen reagieren zu können. Wir vermischen immer wieder die Disukussionen zu grundsätzlicher Priorisierung der Interessen mit akuten Handlungen für die nächsten paar Wochen.

Der hier vorgeschlagene Mechanismus berücksichtigt das: Wir machen einmal die grundsätzliche Priorisierungsdiskussion (und passen sie immer mal an), das Tagesgeschäft überlassen wird aber einem Satz Regeln.

Damit können die Politiker ihre eigentliche Aufgabe wahrnehmen, die Interessen in der Gesellschaft gegeneinander abzuwägen, sind aber nicht immer für die Tagesentscheidungen der Kritik ausgesetzt.

Warum braucht es eine Dauerlösung?

Wir wären alle gerne in zwei Wochen durch. Wir wären alle schon seit einem Jahr gerne in zwei Wochen durch.

Das ist nur nicht realistisch. Wir werden auch in Deutschland noch bis Ende 2021 uns ernsthaft mit der Pandemie auseinandersetzen müssen. Und das unterstellt keine weiteren Überraschungen und preist nur die bisher bekannten Mutationen ein. Weltweit wird es noch ein paar Jahre länger dauern.

Das neue normal haben wir dann in ein paar Jahren erreicht. Bis dahin brauchen wir einen Pfad, eine Möglichkeit mit der Situation umzugehen.

Lockdown ist nur die letzte Verteidigungslinie gegen den Kontrollverlust. Als solche werden wir sie aber mindestens lokal immer mal wieder brauchen. Gut, wenn wir dann einen bewährten Satz Regeln haben.

Warum machen hohe Fallzahlen niemals Sinn und wo liegt der Denkfehler?

Ich habe etwas gebraucht, den zu verstehen, aber es sagt viel über unser gegenwärtigen Umgang mit der Pandemie aus. Lasst mich kurz ausholen.

Wer zu schnell Auto fährt, gefährdet sich und andere. Deswegen haben wir kollektive Regeln, die die Geschwindigkeit begrenzen. Macht es Sinn Ayrton Senna die gleiche Geschwindigkeit vorzuschreiben, wie meiner Oma? Nein, es ist einfach eine pauschale Regel.

Regeln müssen durchgesetzt werden. Wir machen das mit örtlichen oder zeitlichen Stichproben. (Ortsfeste Blitzer und mobile Kontrollen). Das reicht aus, die allermeisten dazu zu bringen, sich an die Regeln zu halten.

Wir könnten jetzt einfach jedem einen GPS-Tracker geben, jede Bewegung protokollieren und sofort an die Bußgeldstelle schicken. Machen wir nicht, denn das wäre übergriffig.

Mit wenigen stichprobenartigen Kontrollen, bekommen wir Compliance von den allermeisten Menschen. Totale Kontrolle bringt wenig und wäre total übergriffig.

So regeln wir alles in unserer Gesellschaft. Steuern, Strafrecht, alles, alles, alles. Eine Regel, stichprobenartige (oder seltene) Kontrolle und Akzeptanz, dass es wert ist nicht alle einzufangen, wenn wir dafür Grundrechte behalten.

So, den muss man verstehen. Wir akzeptieren, dass mehr Regeldurchsetzung mehr Aufwand ist und stärker in unser Leben eingreift.

Jetzt verlangen wir von dem Virus, dass es sich an die Regeln hält und z.B. niemanden umbringt. Wir akzeptieren, dass wir uns da nicht ganz durchsetzen können und akzeptieren gewisse Inzidenzen, je nachdem, welches Grundrecht gerade wichtig ist.

Siehst Du die Struktur?

Wenn wir sagen, Schulen schließen erst ab einer Inzidenz von 200, dann sagen wir nichts anderes als: Schulen sind uns wichtig, wir sind bereit, dafür Nachteile zu akzeptieren und sie erst bei hohen Infektionszahlen zu schließen.

Denn wir glauben, dass es mehr Aufwand ist, niedrige Zahlen einzudämmen als hohe. Das ist ganz tief in uns drin, ist aber völlig falsch. Das Gegenteil ist sogar der Fall. Und das geht so:

Die Pandemie ist skalenlos: Null ist das richtige Ziel!

Ich kann mit allgmeinen Maßnahmen der Kontaktreduktion den R-Wert beeinflussen. Ich kann, indem ich Menschen sage, sie mögen bitte auf Kontakte verzichten, das Virus in seiner Ausbreitung beeinflussen und bremsen.

Wenn Kinder nicht zu Schule gehen, haben Kinder weniger Kontakte. Wenn Sportvereine schließen, haben Kinder und Erwachsene weniger Kontakte. Der R-Wert fällt. Das ist unabhängig von der Inzidenz, denn die Wirkung ist individuell.

Ein Mensch hat ohne seine Hobbies weniger Kontakte. Ein Infizierter kann ohne diese Kontakte das Virus nicht so einfach weiter geben. Dabei ist es völlig egal, ob andere Menschen auch infiziert sind um ihn herum. Das gilt für den Menschen selber.

Ein Maßnahmenpaket ergibt einen R-Wert von 1,2. Das gilt unabhängig von der Inzidenz. Die kann 1, 10, 100 oder 1000 (=1% der Bevölkerung) sein. Entscheidend ist, dass die Maßnahmen dazu führen, dass ein Infizierter 1,2 andere ansteckt. Wir nennen das Skalenlos, das System verhält sich gleich auf unterschiedlichen Skalen.

Das heißt dann auch, dass der Aufwand, den R-Wert unter 1 zu halten immer der gleiche ist (ändert sich mit Virusmutanten) und nicht von der Zahl der Infizierten abhängt. Es macht also keinen Sinn, hohe Ansteckungszahlen zuzulassen. Der Aufwand für die Eindämmung ist immer der gleiche, der Nutzen ist bei niedrigen Inzidenzen besser, weil wir nicht so viele Kranke und Tote haben.

Und jetzt kommt es: Das Gesundheitsamt kann mit seinen Eindämmungsmaßnahmen einen größeren Einfluss auf wenig Fälle haben, als auf viele. Dass heißt, einen niedrigen R-Wert bekommen wir bei geringen Inzidenzen einfacher, mit weniger Eingriffen in unsere Kontakte.

Es macht also gar keinen Sinn, Schulen noch bis zu einer Inzidenz von 200 offen zu halten. Es wird nur immer schwerer, die Kontrolle zu behalten.

Ein Automatismus soll Grundrechte einschränken?

Ich verstehe die Sorgen, dass ein Automatismus neue Stufen zur Einschränkung von Grundrechten anziehen soll. Da sollte doch ein Mensch drüber schauen, der demokratisch legitimiert ist, bevor so etwas stattfindet. Ja und das tut es ja auch.

Die Eskalationstreppe und der Mechanismus sollten durch die Parlamente in Bund und Ländern. Damit sind sie legitimiert von der ersten Stufe bis zur letzten. Es haben also demokratisch legitimierte Menschen über diesen Schritt gewacht. Mehr übrigens als bei den aktuellen Notverordnungen, die nur durch die Exekutive gehen und die Legislative umgehen.

Eigenverantwortung

Ein wichtiger Aspekt, der von vorne bis hinten mitgedacht gehört ist die Stärkung der Eigenverantwortung. Die Bevölkerung hat es in der Hand, nicht die letzten Lücken in den Regeln auszunutzen, sondern sich bewusst an die nächsten Stufen zu halten. Das senkt die Übertragungen. Mit sinkenden Übertragungen kommt dann eine Stufe Lockerungen in Frage.

Es ist ein fundamentaler Unterschied, sich an ein Verhalten zu halten, weil man sich dazu entschieden hat, oder weil man dazu gezwungen wurde.

In welchen Regionen

Dieses Konzept funktioniert auf verschiedenen Ebenen. Es kann eine Stufe für ganz Deutschland gelten, aber das wäre sehr unspezifisch. Es ist eine Stufe pro Bundesland möglich. Das macht in den Stadtstaaten Sinn.

Grundsätzlich gilt: je kleiner eine Zone ist, desto mehr schlagen einzelne Ereignisse auf das Ergebnis durch. Dann könnte ein Schulausbruch eine ganz Stadt in eine höhere Stufe zwingen. Das macht Unruhe und animiert zum Vertuschen.

Je größer eine Zone ist, desto unspezifischer ist der Lockdown. Dann ist er an einem Ort zu scharf und an anderen breitet sich das Virus wieder aus.

Auch muss man bedenken, dass verschiedene Stufen des Lockdowns Einfluss auf z.B. Shoppingtourismus haben. Und sehr ungleiche Stufen dadurch eine Übertragung untereinander bekommen würden.

Je größer eine Zone, desto mehr verbleibt innerhalb der Zone.

Aktuell denke ich über eine Zonengröße in der Größe von Stadtstaaten, kleinen Bundesländern oder Regierungsbezirken in großen Bundesländern nach. Ca. 2 Mio Einwohner. Das mag etwas groß sein, geht aber gut auf lokale Entwicklungen ein. Es ist auch möglich erstmal auf der Ebene zu starten und später weiter auszudifferenzieren.